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MODIFIED DRAFT VERSION, 30. Nov. 2016
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Richard Dedekind: Brief an Keferstein / Letter to Keferstein
edited by Christian Tapp
This is a critical edition of the famous letter, the mathematician Richard Dedekind (1831–1916) has sent to one of his critiques, namely H. Keferstein on 27 February 1890.
The original German version was first published by M.-A. Sinaceur in (Sinaceur 1974). The edition presented here relies on Sinaceur’s one but corrects some inaccuracies.
For more biographical information on Dedekind see (O’Connor/Robertson 1998). For an account of his foundational research see (Sieg/Schlimm 2005).
The edition is designed as follows. Abbreviations are expanded by square brackets (Abb[reviation]). Textcritical remarks (i.e., relevant differences to the edition (Sinaceur 1974) [=]) are given in footnotes. Dedekind’s old style German orthography has been reproduced in the original way in order to provide the reader with the „original feeling“ of Dedekind’s writing. For example, he always writes „ß“ instead of „ss“, uses „c“ instead of „k“ in words with Latin origin, and he adheres to writing „th“ instead of „t“ like in „Thal“ (old) instead of „Tal“ (modern).
1890. 2. 27. Herrn Oberlehrer Dr. H. Keferstein. Hamburg
Hochgeehrter Herr Doctor!
Für Ihren freundlichen111 writes „freudlichen“. Brief vom 14. d[ieses] M[onats] und die darin ausgesprochene Bereitwilligkeit, meiner Entgegnung Gehör zu verschaffen, sage ich Ihnen meinen besten Dank. Doch möchte ich Sie bitten, in dieser Angelegenheit Nichts zu übereilen und erst dann einen Entschluß zu faßen, nachdem Sie, wenn Sie Zeit222 writes „die Zeit“. dazu haben, die wichtigsten Erklärungen und Beweise in meiner Zahlenschrift noch einmal genau gelesen und durchdacht haben. Ich halte es nämlich für höchst wahrscheinlich, daß Sie sich dann in allen Puncten zu meiner Auffaßung333 writes „Anffassung“. und Behandlung des Gegenstandes bekehren werden, und gerade hierauf würde ich bei weitem den größten Werth legen, weil ich überzeugt bin, daß Sie wirklich ein tiefes Intereße für die Sache hegen.
Um diese Annäherung wo möglich zu befördern, möchte ich Sie bitten, dem folgenden Gedankengange, der die Genesis meiner Schrift darstellt, Ihre Aufmerksamkeit zu schenken. Wie ist meine Schrift entstanden? Gewiß nicht in einem Tage444 writes „Zuge“., sondern sie ist eine nach langer Arbeit aufgebaute Synthese, die sich auf eine ††margin: 2 vorausgehende Analyse der Reihe der natürlichen Zahlen stützt, so wie diese sich, gewißermaßen erfahrungsmäßig, unserer Betrachtung darbietet. Welches sind die von einander unabhängigen Grundeigenschaften dieser Reihe , d. h. diejenigen Eigenschaften, welche sich nicht aus einander555 writes „auseinander“. ableiten laßen, aus denen aber alle anderen folgen?666 writes „folgen.“. Und wie muß man diese Eigenschaften ihres spezifisch arithmetischen777 writes „Ihres spezifischarithmetischen“. Charakters entkleiden, der Art, daß sie sich allgemeineren888 writes „allgemeinen“. Begriffen und solchen Tätigkeiten des Verstandes unterordnen, ohne welche überhaupt kein Denken möglich ist, mit welchen aber auch die Grundlage gegeben ist für die Sicherheit und Vollständigkiet der Beweise, wie für die Bildung widerspruchsfreier Begriffserklärungen?
Stellt man die Frage in dieser Weise, so wird man, wie ich glaube, mit Gewalt auf folgende Thatsachen gedrängt:
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1)
Die Zahlenreihe ist ein System von Individuen oder Elementen, die Zahlen999 writes „„Zahlen““. heißen. Dies führt zur allge††margin: 3 meinen Betrachtung von Systemen überhaupt (§. 1 meiner Schrift).
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2)
Die Elemente des Systems stehen in gewißer Beziehung zu einander101010 writes „zueinander“., es herrscht eine gewiße Ordnung, die zunächst darin besteht, daß zu jeder bestimmten Zahl eine bestimmte Zahl , die folgende oder nächst größere Zahl gehört. Dies111111 writes „Dieses“. führt zur Betrachtung des allgemeinen Begriffs einer Abbildung eines Systems (§. 2), und da das Bild einer jeden Zahl wieder eine Zahl121212 writes „Zahl“. , also Theil von ist, so handelt es sich hier um die Abbildung eines Systems in sich selbst, welche also allgemein zu untersuchen ist (§. 4).
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3)
Auf verschiedene Zahlen , folgen auch verschiedene Zahlen , ; die Abbildung hat131313 writes „hat“. also den Charakter der Deutlichkeit oder Ähnlichkeit (§. 3).
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4)
Nicht jede Zahl ist eine folgende Zahl , d. h. ist echter Theil von , und hierin besteht (in Verbindung mit dem Vorhergehenden) die Unendlichkeit der Zahlenreihe (§. 5).
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5)
Und zwar ist die Zahl die einzige Zahl, welche sich nicht in findet. Hiermit sind ††margin: 4 diejenigen Thatsachen aufgezählt, in welchen Sie (S. 124, Z. 8–14) den vollständigen Charakter eines geordneten einfach unendlichen Systems erblicken.
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6)
Aber ich habe in meiner Entgegnung (III) gezeigt, daß diese Thatsachen noch lange nicht ausreichen, um das Wesen der Zahlenreihe vollständig zu erfaßen. Alle141414 writes „erfassen; Alle“. diese Thatsachen würden auch noch für jedes System gelten, welches außer der Zahlenreihe noch ein System von beliebigen anderen Elementen enthält, auf welches151515 writes „welche“. die Abbildung sich stets so ausdehnen läßt, daß sie den Charakter der Ähnlichkeit behält, und daß wird. Aber ein solches System ist offenbar etwas ganz Anderes, als unsere Zahlenreihe , und ich könnte es so wählen, daß in ihm kaum ein einziger der arithmetischen Sätze bestehen bliebe. Was muß also zu den bisherigen Thatsachen noch hinzu kommen um unser System von solchen fremden, alle Ordnung störenden Eindringlingen wieder zu reinigen und auf zu beschränken?161616 writes „beschränken.“. Dies171717 writes „Dieses“. war einer der schwierigsten Puncte meiner Analyse, und seine Überwindung hat ein langes Nachdenken erfordert. Setzt man die Kenntniß der natürlichen Zahlenreihe schon voraus und ††margin: 5 erlaubt sich demgemäß eine arithmetische Ausdrucksweise, so hat man ja leichtes Spiel; man braucht nur zu sagen: ein Element gehört dann und nur dann der Reihe an, wenn ich, von dem Element 1 ausgehend, durch beständig wiederholtes Weiterzählen, d. h. durch eine endliche181818 writes „unendliche“. Anzahl von Wiederholungen der Abbildung (vergl. den Schluß von 131 meiner Schrift) wirklich einmal zu dem Element gelange, während ich auf diese Weise niemals zu einem der Reihe fremden Element gelange. Aber dieser Weg, den Unterschied zwischen den aus wieder auszutreibenden Elementen und den allein bei zu behaltenden Elementen zu charakterisiren, ist doch für unseren Zweck gänzlich unbrauchbar, er enthielte ja einen circulus vitiosus191919 writes „viciosus“. der schlimmsten und auffälligsten Art. Die bloßen Worte „endlich einmal hinkommen“ tun es auch natürlich nicht, sie würden nicht mehr helfen als etwa die Worte „Karam sipo tatura“, die ich augenblicklich erfinde, ohne ihnen einen deutlich erklärten Sinn zu geben. Also: wie kann ich, ohne irgend welche arithmetische Kenntniß202020 writes „Erkenntnis“. vorauszusetzen, den Unterschied zwischen ††margin: 6 den Elementen und unfehlbar begrifflich bestimmen? Ganz allein durch die Betrachtung der Ketten (37, 44 meiner Schrift), durch diese aber auch vollständig! Will ich meinen Kunstausdruck „Kette“ vermeiden, so werde ich sagen: ein Element von gehört dann und nur dann der Reihe an, wenn Element jedes solchen Theils von ist, welcher212121 writes „welches“. die doppelte Eigenschaft besitzt, daß das Element in enthalten ist, und daß das Bild Theil von ist. Zu meiner Kunstsprache: ist die Gemeinheit oder aller derjenigen Ketten (in ), in denen222222 writes „indem“. das Element enthalten ist. Erst hierdurch ist der vollständige Charakter der Reihe festgestellt. — Hierzu bemerke ich beiläufig Folgendes. Die „Begriffsschrift“ und die „Grundlagen der Arithmetik“ von Frege sind zum ersten Male im letzten Sommer (1889) auf kurze Zeit in meine Hände gelangt, und ich habe mit Vergnügen gesehen, daß seine Art, das mittelbare Folgen eines Elementes auf ein anderes in einer Reihe zu erklären, im Wesentlichen mit meinen Kettenbegriffen (37, 44) übereinstimmt; man muß sich nur durch seine etwas unbequeme Ausdrucksweise nicht zurückschrecken laßen. — ††margin: 7
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7)
Nachdem in meiner Analyse der wesentliche Charakter des einfach unendlichen Systems, deßen abstracter Typus die Zahlenreihe ist, erkannt war (71, 73), fragte es sich: existirt überhaupt ein solches System in unserer Gedankenwelt? Ohne den logischen Existenz-Beweis232323 writes „Existenzbeweis“. würde es immer zweifelhaft bleiben, ob nicht der Begriff eines solchen Systems vielleicht innere Widersprüche enthält. Daher die Nothwendigkeit solcher Beweise (66, 72 meiner Schrift).
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8)
Nachdem auch dies festgestellt war, fragte es sich: liegt in dem Bisherigen auch eine ausreichende Beweismethode242424 writes „Beweismethode“., um Sätze, die für alle Zahlen gelten sollen, allgemein zu beweisen? Ja! Der berühmte Induktions-Beweis252525 writes „Induktionsbeweis“. ruht auf der262626 writes „dieser“. sicheren Grundlage des Ketten-Begriffs272727 writes „Kettenbegriffes“. (59, 60, 80 meiner Schrift).
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9)
Endlich: ist es auch möglich, die Definitionen für Zahlen-Operationen282828 writes „Zahlen Operationen“. widerspruchsfrei für alle Zahlen aufzustellen? Ja! Dies wird durch den Satz 126 meiner Schrift in der That geleistet. —
Damit war die Analyse beendigt, und der synthetische Aufbau konnte beginnen; er292929 writes „es“. hat mir doch noch Mühe genug gemacht! Auch der ††margin: 8 Leser meiner Schrift hat es wahrlich nicht leicht; außer dem gesunden Menschenverstande gehört auch noch ein sehr starker Wille dazu, um Alles vollständig durchzuarbeiten.
Ich wende303030 writes „werde“. mich nun noch zu einigen Stellen Ihrer Abhandlung, die ich in313131 writes „im“. meiner neulichen Entgegnung nicht erwähnt habe, weil sie weniger wichtig sind; vielleicht werden aber meine darauf bezüglichen Bemerkungen noch Einiges zur Klärung der Sache beitragen.
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a)
S. 121, Z. 19. Weshalb wird hier von einem Theile gesprochen? Eine Anzahl schreibe ich später (161 meiner Schrift) jedem endlichen Systeme und nur einem solchen zu.
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b)
S. 122, Z. 8. Hier findet sich eine Verwechselung zwischen Abbildung und Bild; statt „Abbildung “, müßte es heißen „Abbildung des Systems “. Nicht , sondern ist eine Abbildung (der abbildende Maler), die aus dem System (Original) das Bild323232 writes „Bild“. erzeugt. Solche Verwechselungen können aber bei unserer Untersuchung recht gefährlich werden.††margin: 9
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c)
S. 123, Z. 1–2. Diese Worte mögen vielleicht auf Frege paßen, auf mich gewiß nicht. Die Zahl als Grundelement der Zahlenreihe wird von mir mit vollkommener Bestimmtheit erklärt in 71, 73, und die Anzahl ergibt sich ebenso im Satze 164 als Folge der allgemeinen Erklärung 161. Hierzu darf gar nichts weiter hinzugefügt werden, wenn nicht eine Trübung eintreten soll.
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d)
S. 123, Z. 29–31. Dies ist schon durch die vorhergehende Bemerkung c) erledigt. Und wie würde wohl die größere Sicherheit und die geringere Weitläufigkeit sich thatsächlich gestalten?
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e)
S. 124, Z. 21–24. Der Sinn dieser Zeilen (sowie der vorhergehenden und folgenden) ist mir nicht ganz deutlich. Soll hier etwa der Wunsch ausgesprochen sein, meine Definition der Zahlenreihe und der Aufeinanderfolge des Elementes auf das Element womöglich anzulehnen an eine anschauliche Reihe? Dem würde ich mich mit größter Bestimmtheit widersetzen, weil sofort die Gefahr entsteht, aus einer solchen Anschauung vielleicht unbewußt auch Sätze als selbstverständlich zu entnehmen, die vielmehr ganz abstract aus der logischen Definition von abgeleitet werden müßen. Wenn ich das auf folgende Element nenne (73), so soll das lediglich ein ††margin: 10 neuer Kunstausdruck sein, durch deßen Benutzung ich nur einige Abwechselung in meine Sprache bringe; diese Sprache würde noch einförmiger und abschreckender klingen, wenn ich auf diese Abwechselung verzichten und immer nur das Bild von nennen müßte. Aber der eine Ausdruck soll genau daßelbe bedeuten wie der andere.
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f)
S. 124, Z. 33 – S. 125, Z. 7. Das333333 writes „das“. in der dritten Zeile343434 writes „dem dritten Teile“. meiner Erklärung 73 gewählte Wort „lediglich“ soll doch offenbar die einzige Einschränkung bezeichnen, welcher das unmittelbar vorhergehende Wort „gänzlich“ zu unterwerfen ist; ließe man diese Einschränkung fallen, nähme also das Wort „gänzlich“ in seinem vollen Sinne, so würde auch die Unterscheidbarkeit der Elemente wegfallen, welche doch für den Begriff des einfach unendlichen Systems unentbehrlich ist. Mir scheint daher dieses „lediglich“ durchaus nicht überflüßig, sondern nothwendig zu sein. Ich verstehe nicht, wie dies einen Anstoß erregen kann. —
Indem ich meinen zu Anfang geäußerten Wunsch wiederhole und Sie bitte, die Ausführlichkeit meiner Erörterungen entschuldigen zu wollen, verbleibe ich mit größter Hochachtung
cp4emc Braunschweig, & Ihr
27. Februar 1890. ergebenster
Petrithorpromenade 24. R. Dedekind.
Literatur
- Dedekind (1872) Dedekind, Richard (\diesesigle): Stetigkeit und Irrationale Zahlen, Braunschweig: Vieweg 1872.
- Dedekind (1888) Dedekind, Richard (\diesesigle): Was sind und was sollen die Zahlen?, Braunschweig: Vieweg 1888.
- O’Connor/Robertson (1998) O’Connor, J. J. and Robertson, E. F. (\diesesigle): Art. Richard Dedekind, in: The MacTutor History of Mathematics archive, URL: http://www-history.mcs.st-andrews.ac.uk/Mathematicians/Dedekind.html, 2. 11. 2005.
- Sieg/Schlimm (2005) Sieg, Wilfried and Schlimm, Dirk (\diesesigle): Dedekind’s Analysis of Number: Systems and Axioms, in: Synthese 147 (2005), S. 121–170.
- Sinaceur (1974) Sinaceur, M.-A. (\diesesigle): L’infini et les nombres : Commentaires de R. Dedekind à „Zahlen“ : La correspondance avec Keferstein, in: Revue de l’Histoire de Sciences 27,3 (1974), S. 251–278.