Eine kurze Einführung in
Gottlob Freges “Begriffsschrift”
Zusammenfassung
In seiner 1879 publizierten Arbeit [3] über die Begriffsschrift führt Gottlob Frege eine Notation ein, um u.a. mathematische Argumentationen mithilfe derselben zu formalisieren. Im Folgenden erläutern wir die Fregesche Notation unter Verwendung der üblichen aussagenlogischen Bezeichnungen und diskutieren Unterschiede zu und Gemeinsamkeiten mit modernen Schreibweisen. Ferner resümieren wir einige der Methoden, die Frege in [3] verwendet.
1 Vorbemerkungen
In der unter Mathematikern—nicht Logikern—gebräuchlichen Notation der Aussagenlogik verwendet man oft ein Gemisch aus Symbolen und Prosa. Zum Beispiel schreibt man häufig Dinge, wie “Sei eine Aussage.” und dann vielleicht nach einer Argumentation als Schlussfolgerung “ ist wahr.”. Oder aber man beginnt einen Beweis mit dem Satz “Angenommen, ist nicht wahr.“ und folgert daraus einen Widerspruch. Obwohl obige Sätze wesentliche Teile einer formalen Argumentation sind, gibt es dennoch keine Symbole, die anstelle von Prosa benutzt werden. Oft schreibt man auch die Worte “für alle”, “es existiert” und “daraus folgt” aus, anstatt die in diesem Fall verfügbaren Symbole “”, “” und
“” zu benutzen.
Wieviele und welche Teile einer mathematischen Argumentation in Prosa bzw. mithilfe von Symbolen formuliert werden, ist stark unterschiedlich und meist eine Stil– oder Geschmacksfrage. In Gottlob Freges Begriffsschrift gibt es kein derartiges Gemisch. In seiner Einleitung formuliert er es als sein Ziel einen Kalkül zu entwickeln, der nach strengen formalen Regeln funktioniert und Argumentationen erlaubt, die—im Gegensatz zu Prosa—keine unterschiedlichen Interpretationen zulassen und führt in konsequenter Weise eine Notation ein, die völlig ohne Prosa auskommt. Ferner verzichtet er z.B. auf ein eigenes Symbol für den Existenzquantor und drückt diesen nur durch sein Verneinungssymbol und den Allquantor aus. Natürlich könnte man dies auch in der modernen Notation machen (und hätte ein Symbol weniger, welches man kennen muß), jedoch würde dies der Lesbarkeit einer Argumentation nicht
gerade zuträglich sein.
Im Folgenden stellen wir die Fregesche Notation vor und bedienen uns dabei der Sprache und Symbolik, wie sie in der Mathematik üblicherweise benutzt wird. Da in der Begriffsschrift ein aussagenlogischer Ausdruck ein aus mehreren Einzelteilen zusammengesetztes zweidimensionales Symbol ist und im Gegensatz zur modernen Notation nicht einfach als Zeile von links nach rechts gelesen werden kann, müssen wir in den folgenden Definitionen stets ganze Aussagen betrachten. Die Begriffsschrift ist also nicht einfach nur ein anderer “Zeichensatz” als die heute übliche Notation.
2 Die Begriffsschrift
Wir verschieben die wesentliche Diskussion darüber, was im Fregeschen Sinne Aussagen, Behauptungen, etc. sind auf Abschnitt 3 und verwenden zunächst die Termini “Aussage”, “aussagenlogischer Ausdruck” und “Aussagevariable” im üblichen (naiven) Sinne, d.h. eine Aussage ist ein sinnvolles sprachliches Gebilde, welchem sich ein “Wahrheitswert” ( oder ) zuordnen läßt. Sinnvolle sprachliche Gebilde, die nach Belegung gewisser Eingangsgrößen einen Wahrheitswert erhalten nennen wir aussagenlogische Ausdrücke und die gewissen Eingangsgrößen Aussagevariablen. Es ist uns bewußt, daß wir soeben für keines der drei Worte eine formale Definition gegeben haben und betrachten Obiges daher als eine Umschreibung, die—auf viele gutartige Beispiele angewand—intuitiv verständlich ist. In diesem
Sinne sind auch die folgenden Definitionen zu verstehen.
Wir werden im Folgenden Abkürzungen für Aussagen und aussagenlogische Ausdrücke verwenden, bzw. Platzhalter oder auch Variablen, die eine beliebige Aussage oder einen beliebigen aussagenlogischen Ausdruck repräsentieren.
1. Konvention.
Wie schon im ersten Abschnitt diskutiert, gibt es in der heute üblichen Notation keine Symbole, um zum Ausdruck zu bringen, daß eine Variable eine Aussage repräsentieren soll, bzw. daß diese Aussage wahr ist. In der Fregeschen Notation hingegen gibt es hierfür Symbole und diese sind in die weitere Symbolik “integriert” in einem Sinne den die folgenden Definitionen zeigen werden. Wir halten zunächst fest, daß wir anstatt zu Beginn eines Abschnittes an der Stelle wo wir unsere Bezeichnungen festlegen zu bemerken, daß ein gewisser Buchstabe (z.B. ) im Folgenden für eine Aussage stehe, überhaupt nichts derartiges bemerken, sondern ab dem ersten Auftreten von ,
schreiben. Wollen wir zum Ausdruck bringen, daß die Aussage wahr ist, so verzichten wir auf die Worte “Es gilt” unmittelbar vor unserer Aussage (oder unserem aussagenlogischen Ausdruck), und schreiben stattdessen
Im Folgenden werden wir häufig zwischen der heute üblichen Notation und der Begriffsschrift wechseln. Dabei ist dann (ohne den waagerechten Strich) eine Aussage in heutiger Notation und dieselbe Aussage in Begriffsschrift. Um die folgenden Erklärungen nicht unnötig zu komplizieren, verzichten wir im Folgenden darauf, jedesmal auf den Unterschied hinzuweisen und überlassen dies dem Leser.
2. Definition.
Für die Verneinung unserer Aussage schreiben wir in Begriffsschrift
Wir wissen, daß von den Junktoren , , , , etc. die Verneinung und ein beliebiger anderer genügen, um damit alle weiteren auszudrücken, wobei es jeweils unterschiedliche Möglichkeiten gibt, dies zu tun. Wie schon in Abschnitt 1 erwähnt, ist die Begriffsschrift redundanzfrei. Es genügt also ein weiteres Zeichen.
3. Definition.
Seien und zwei Aussagen. Dann bezeichnet
die Aussage . Obiges Zeichen entspricht also dem heute üblichen Implikationspfeil.
4. Bemerkung.
Im Folgenden werden wir es oft mit zusammengesetzten Zeichen zu tun haben. Dabei denken wir uns vor jedem senkrechten “Bedingungsstrich” eine Klammer, die am Ende des entsprechenden Teilzeichens geschlossen wird. Zum Beispiel bezieht sich die Verneinung in 5.(ii) auf alles rechts davon Stehende — was im Beweis auch nochmal verdeutlicht wird.
5. Lemma.
-
(i)
In Begriffsschrift entspricht die Disjunktion von und dem folgenden Zeichen.
-
(ii)
Analog entspricht die Konjunktion dem Folgenden.
Beweis.
(i) Das Begriffsschrift–Symbol übersetzt lautet . Per Wahrheitstafel
folgt die Äquivalenz zu .
(ii) Wir haben
wegen der folgenden Wahrheitstafel.
∎
6. Beispiel.
Die Aussage
lautet in moderner Notation
Wie oben sieht man dies per Übersetzung und mittels geeigneter Wahrheitstafeln.
In Abschnitt 1 haben wir auch schon erwähnt, daß von den Symbolen und eines genügen würde, da sich das jeweils andere dadurch ausdrücken läßt. Wir definieren nur ein Symbol für den Allquantor und folgern dann, welches Zeichen für den Existenzquantor steht.
7. Definition.
Sei ein aussagenlogischer Ausdruck und eine Aussagenvariable. Dann bezeichnet
die Aussage .
8. Lemma.
Das Symbol
entspricht in moderner Schreibweise der Aussage .
Beweis.
Per Definition entspricht obiges gerade . Mit den üblichen Regeln über den Umgang mit Quantoren sieht man sofort, daß dies äquivalent zu ist. ∎
9. Beispiel.
Die Begriffsschrift läßt nun in natürlicher Weise aussagenlogische Ausdrücke in denen mehr als eine Variable vorkommt zu: Sind und aussagenlogische Ausdrücke und , Aussagenvariablen, so lautet das Begriffsschrift–Symbol für die Feststellung
“Es gilt: ”
gerade
Iterationen sind hierbei keine Grenzen gesetzt, wie die folgenden Übungsaufgaben zeigen. Ferner lassen sich auch formale Operationen (wie z.B. die Negation einer Aussage zu formulieren) in der Begriffsschrift ähnlich leicht bewerkstellingen, wie in der modernen Quantorenschreibweise.
10. Übung.
Schreibe den folgenden aussagenlogischen Ausdruck in moderner Notation. Beachte: bezeichnet eine Abbildung und ist beliebig.
Lösung: Hier steht die Definition dafür daß stetig an der Stelle ist, nämlich
11. Übung.
Schreibe die Aussage
mithilfe von Freges Begriffsschrift und bestimme ihre Verneinung.
Lösung: Obige Bedingung sieht in Freges Notation folgendermaßen aus:
Ihre Verneinung gewinnt man durch “umdrehen” der Quantoren, sowie der Abschätzung:
3 Diskussion
Aus heutiger Sicht mag die Fregesche Notation umständlich erscheinen. Jedoch muß berücksichtig werden, daß Freges Konzept in natürlicher und selbstverständlicher Weise all diejenigen Hilfsmittel zur Verfügung stellt, die auch heute noch am Anfang eines jeden Mathematikstudiums stehen.
Was seine Präsentation in [3] angeht, so ist diese ebenfalls durchaus mit einer modernen (nicht für Logiker aber wohl für Mathematiker) vergleichbar: Nach einer Einführung, in welcher er darauf hinweist, daß die Sprache ein zu unpräzises Mittel für die formale Begründung von Sachverhalten ist (und den Unterschied zwischen Beweis und Heuristik thematisiert), führt er die Begriffe “Inhalt” und “Urteil” ein; heute üblich sind die Bezeichnungen “Aussage” und vielleicht “Aussage mit Wahrheitswert ”. In seinen Bemerkungen zu den Begriffen “Subjekt” und “Prädikat” verdeutlicht er (nochmals), daß er mit seiner Notation grammatikalische Probleme zu überwinden versucht. Der von ihm eingeführte “Bedingungsstrich” (die
Implikation) wird
de facto mithilfe von Wahrheitstafeln definiert — auch wenn er an dieser und den folgenden Stellen stets die einzelnen Zeilen in Prosa durchgeht. Er stellt fest, daß nur die Implikation nötig ist, um aus bekannten Schlußweisen neue zu gewinnen. Seine Begriffe “Function” und “Argument” entsprechen gerade dem was heute unter dem Namen “aussagenlogischer Ausdruck” (oder auch “Aussageform”) und “Aussagenvariable” auf analoge Weise eingeführt wird. Nach der Definition des Existenzquantors findet sich sogar explizit die Erklärung “Es gibt…”.
Zusammenfassend läßt sich das erste Kapitel von [3] als eine Einführung in die Aussagenlogik betrachten, die sich lediglich in grammatikalischen und symbolischen Belangen von modernen Darstellungen unterscheidet.
Für Informationen zur Person und anderen Arbeiten Gottlob Freges siehe z.B. Dummett [1, 2], George und Heck [4] sowie Sternfeld [5] und die dort angegebenen Referenzen.
Literatur
- [1] M. Dummett, Gottlob Frege (1848-1925), The Encyclopedia of Philosophy (1967), no. 3, 225–237.
- [2] M. Dummett, Frege: Philosophy of Mathematics, Duckworth, London, 1991.
- [3] G. Frege, Begriffsschrift und andere Aufsätze, Darmstadt: Wissenschaftl. Buchges., New York, 1977, mit E. Husserls u. H. Scholz’ Anm. hrsg. von Ignacio Angelelli, 3. Aufl., 2. Nachdr.-Aufl.
- [4] A. George and R. Heck, Gottlob Frege (1848-1925), Routledge Encyclopedia of Philosophy (1998), 765–778.
- [5] R. Sternfeld, Frege’s Logical Theory, Southern Illinois University Press, Carbondale and Edwardsville, 1966, foreword by George Kimball Plochmann.